Epitaph für meinen Großvater
für Bassklarinette und Tänzerin
1. Teil: Briefe (1 – 6)
2. Teil: Epigramm – in die Zeit geschrieben
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Dauer: ca. 7 min
Uraufführung: im Rahmen des Projektes
ERINNERN UND VERWANDELN –
EPITAPHE
Georg Wettin – Klarinette / Bassklarinette / Kontrabassklarinette
Makhina Dzhuraeva – Tanz
Freitag, d. 25. April 2025 um 17:30 Uhr
Eröffnung der Messiaen-Tage Görlitz
Kulturforum Görlitzer Synagoge, Otto-Müller-Straße 3, 02826 Görlitz
Mittwoch, d. 7. Mai 2025 um 19 Uhr
DenkRaum Sophienkirche Dresden, Sophienstr. 2
Werke von Carsten Hennig, Macarena Rosmanich, Christian Diemer, Joanna Wozny und Friedemann Stolte
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briefe.vergegenwärtigen | Epitaph für meinen Großvater
entstand für das Programm
ERINNERN UND VERWANDELN –
EPITAPHE
Was hat es mit dem Epitaph auf sich?
Das Epitaph („zum Grab gehörend“) dient als Metapher, um eine Verbindung zu stiften zwischen dem Erinnern an unzählbare Kriegsopfer und dem Gestalten unserer Gegenwart. Die Bezeichnung Epitaph, in der Antike eine poetische Grabinschrift oder ab dem Mittelalter ein erweitertes Grab-Kunstwerk, wird in diesem Programm und in diesem Stück als lebendiges Epitaph gesehen, das in Musik und Tanz eine Verkörperung erfährt. Im Erinnern einzelner Schicksale würdigen wir die namenlosen, vergessenen und übersehenen Menschen, die ihr Leben damals wie heute im Krieg verloren.
Warum schreibe ich ein Epitaph für meinen Großvater?
Er hatte keine offiziellen Verdienste vorzuweisen. Aber weil er tat, was er tat, und weil er fehlte, möchte ich ihm Würdigung durch Erinnern zuteil werden lassen. Mein Großvater hat es zwar vermocht, seine (so die Nazi-Rassenlehre:) „halb“-jüdische Frau, ihrer beider vier Töchter und ebenso seine jüdische Schwiegermutter, meine Urgroßmutter, abzuschirmen und ihr Überleben im Berlin der NS-Zeit zu schützen, sein eigenes Leben aber verlor er. In den letzten Kriegsmonaten mußte er noch an die Front (im heutigen Polen), wo er im Januar 1945 fiel.
Er war einer Schreibstube zugeteilt. Die Schreibmaschine ist mir daher zum Synonym geworden dafür, dass er hat funktionieren müssen im Regeln aller möglichen Dinge, auch der privaten.
Was ich von ihm kenne, sind seine handschriftlichen Briefe aus diesen Monaten, soweit sie ankamen und vorliegen. Sie sind mir nun Anhaltspunkt für das Epitaph gewesen, das ich ihm widmen möchte.
Seine Briefe textlich oder direkt historisch zu nutzen, war mir nicht möglich. Dazu liefern sie ein zu unvollständiges Bild. Im Gegenteil drängte sich die Frage auf, was er weggelassen hat, weglassen mußte und wollte. Man muß bedenken, dass die Briefe kontrolliert und gelesen wurden, sie tragen Stempel auf dem Geschriebenen. Man erfährt wenig über ihn selbst und seine Situation. Auch in anderer Hinsicht konnte er nicht riskieren, zu konkret zu werden, um die Seinen nicht zu gefährden. Die Frage kam auf, wovon eigentlich die Briefe reden, und dies zu vergegenwärtigen.
Wovon also reden die Briefe?
Er schreibt, um in Verbindung zu sein. Er schaut in berührend positiver Weise auf die immer nächsten Schritte. Er ist voller Sorge um das Wohlergehen seiner Familie, fragt nach Schule und Geburtstag der Kinder, nach Erfolg bei Holz- und Kohlenkäufen und dem Geld dafür. Er spielt seine Situation herunter, damit sie sich keine Sorgen um ihn machen. Er resümiert in positiver Weise ihre 17 Jahre Ehe, sie hat ihm „soviel Glück gegeben“, für das er Opfer zu bringen gerne bereit ist, er bereut keine Entscheidung. Womit er unausgesprochen auch gemeint haben dürfte, dass er zu ihr und ihrer jüdischen Herkunft und Familie steht. Er fühlt die Selbstverständlichkeit, bei dieser Entscheidung zu bleiben, obwohl er seine Arbeit und Existenz damit ebenfalls gefährdet haben wird. Er vertritt diese Menschlichkeit, trotz allem, was drohte.
Das Stück ist das Ergebnis meiner Suche nach einer künstlerischen Form, mit der ich das Vergegenwärtigen zugänglich machen kann über sein einzelnes Schicksal hinaus. So daß es, wie es das Wort sagt, Gegenwart gewinnt, den Modus der Zeit wechselt von der historischen Linearität in die Zeitlosigkeit des Gegenwärtigseins.
Wie gescheht das?
- Zum ersten Mal nutze ich für die Komposition eine graphische Notation. Das entspricht den Briefen: Es ist nicht möglich, direkt zu spielen, was man liest, sondern notwendig, sich aufgrund des vorhandenen Materials zu fragen, was fehlt und was es meint. Die Notation nimmt trotzdem konkrete Elemente auf und zeigt – zusammen mit diversen Erläuterungen – klangliche, teilweise tonhöhendefinierte, dynamische, strukturelle und spieltechnische Anteile und ihre Beziehungen und Verläufe. Trotzdem bezieht diese Notationsform das Vage und Unbestimmbare, also die subjektive Deutungsnotwendigkeit des vorhandenen Materials mit ein.
- Das Stück enthält neben der musikalischen eine performative Struktur. Wie schon in anderen Stücken suche ich eine solche Struktur, die das Publikum mitdenkt und einen Kontext schafft, der die Wahrnehmung und Deutung der Musik beeinflußt. Die Notenblätter der einzelnen Teile, die ich „Briefe“ nenne, werden als Objekte genutzt, die einen Weg zum Publikum hin markieren werden, den der/die Bassklarinettist:in im letzten Teil dann zurücklegt, spielend.
- Damit kommt die Tänzerin sinnvoll ins Spiel. Sie sorgt für den Weg der Notenblätter zum oder im Publikum. Sie repräsentiert das eher physische alter ego zur Klarinette, das zum zeitlosen Jetzt und Hier des Vergegenwärtigens leitet. Sie bringt es mit ihrem physischen Agieren in anderer Dringlichkeit zum Publikum, als die Musik es tut, deren Bezug auf die Briefe beim Damals anknüpft. Beide bedingen sich einander im Transformationsprozess des Vergegenwärtigens.