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AUS DER TIEFE _ tatort: neapel

Programm des Bessiner Kammerchores (2012 – 2014)

Musik von, zu, um und nach Carlo Gesualdo

Bessiner Kammerchor
Lynn Tabbert, Cembalo (Kopie eines Cembalo von Giacomo Ridolfi, Rom 1682)
Friedemann Stolte, Leitung


Grafik & Gestaltung: © Mathias Lindner

Die Musik des neapolitanischen Komponisten Carlo Gesualdo bestimmt den Charakter unseres Programms. Dieser hochgradig sensible komponierende Fürst schuf geniale Werke, deren kühne harmonische Vorgänge damals als ungeheuerlich empfunden wurden – noch heute klingt vieles ausgesprochen modern, sonderbar und leidenschaftlich. Im Laufe des Programms folgen wir Spuren seiner drastischen, expressiven Harmonik bis in die Gegenwart.

Gesualdos Musik wie auch sein Leben sind geprägt von gewaltigen Spannungen, einem endlosen Ringen zwischen den ihm innewohnenden Kräften. Denn Carlo Gesualdo da Venosa (1560 – 1613) ist nicht nur für seine chromatische Musik berühmt, sondern ebenso für den Ehrenmord an seiner Frau Maria d‘ Avalos und ihrem Liebhaber. Tatort: Neapel

Die Versuchung liegt nahe, diesen Umstand mit seiner unglaublichen Musik in Verbindung zu bringen. Gewiss hat diese Erfahrung seiner Suche nach nie gehörten musikalischen Kontrasten zusätzlich Anlass, Vehemenz und Farbe gegeben. Tatsächlich ist Gesualdo mit seiner Tat offenbar auch nie fertig geworden. Ersehnte Sühne und befreiende Erlösung schienen trotz gerichtlicher Freisprechung unmöglich. Das spiegelt sich in zahllosen Madrigalen, die alle ein sehr zerrissenes Verhältnis zur geliebten, angebeteten Frau beschreiben und das eigene Zugrundegehen an den unlösbaren Beziehungsfragen. Es spiegelt sich ebenso in geistlichen Kompositionen wieder, die in großer Fülle Marienkompositionen in derselben Intention sind.

Auf den Spuren Gesualdos reiste Igor Stravinsky (1882 – 1971) mehrmals nach Venosa und Gesualdo. Er verehrte Gesualdos Musik und orchestrierte einige seiner Madrigale, außerdem ergänzte er drei der unvollständig erhaltenen SACRAE CANTIONES II um fehlende Stimmen. Zwei davon werden zu hören sein, eines in einer wiederum instrumentierten Fassung mit Cembalo.

In INTERVALLI CHIAROSCURI hat auch Friedemann Stolte (*1966) zwei dieser Sacrae Cantiones II ergänzt. Der Titel bezieht sich auf damals geläufige Ausdrücke: „intervalli lucidi“ meint die lichten Augenblicke, während in „chiaroscuri“, dem gleichzeitigen Helldunkel, eher die Unklarheit und Verworrenheit dieser Musik angesprochen wird. Die einzig erhaltene Altstimme des letzten Werks in Gesualdos 7. Madrigalbuch wird zum Ausgangsmaterial für ein weiteres, vollkommen neues Stück. In ihm schwindet die harmonische Klarheit durch die Verwendung von Mikrointervallen. So verstärkt der Komponist die stark sogartige Wirkung der Vorlage: das Ringen zwischen den allegorischen Figuren des Lebens und des Todes, das Geschehen zwischen dem Gebären einer Sonne und ihrem Tod ist physisch spürbar.
Schließlich gehört zu den INTERVALLI CHIAROSCURI ein Stück für Holz-Percussion: es bezieht sich auf die Legende, dass Gesualdo nach seiner Mordtat den gesamten Wald im Tal hinter seinem Schloss selbst abgeholzt habe – allein in monatelanger Arbeit. Er habe sich von ihm bedroht gefühlt. Das perkussive Element ist ein der Musik Gesual- dos völlig entgegengesetztes. Im harmonischen Vakuum eines solchen schlagenden Kontinuums erscheint ein unverbrauchtes, textfreies Medium als modernes Spiegelbild des alten Wahns. Tatort: alte und neue Noten.

Eine andere Art von Spur verfolgt E.T.A. HOFFMANN (1776-1822). In vielen seiner Erzählungen und Märchen beschwört er phantastische, irre Begebenheiten herauf, von denen die teuflischen, die wahnsinnigen, düsteren und verderbenbringenden Personen und Verstrickungen sehr oft mit Italien und besonders mit einem sehr verruchten Neapel zu tun haben. Was gut ist und was böse, was wahnhaft und was normal erscheint, verschwimmt. Tatort: Legenden

E.T.A. Hoffmann komponierte auch, ja er sah seine Berufung anfangs als Musiker und Komponist. Unser hier gesungenes Chorstück Salve Regina – wie das O Beata Mater eine Marienkomposition – lebt ebenso von der Spannung aus empfindsamer „Normalität“ und chromatischer Exaltation.

Die vorwiegend vokale Musik Gesualdos wird kontrastiert und ergänzt durch Cembalomusik der italienischen Renaissance. Im näheren und weiteren Umfeld Gesualdos gab es noch weitere Komponisten, die einen ausgeprägten Hang zu einem chromatischen Kompositionsstil zeigten, wie Mayone oder Luzzaschi. Das ist um so interessanter, als ja stimmungsbedingt auf den Tasteninstrumenten der Zeit klanglich reine Chromatik nur sehr begrenzt möglich war. Dafür wurden sogar völlig neuartige, verrückte Cembali, sogenannte Archicembali gebaut, die mit ihren 19, 36 oder gar 53 (!) Tasten pro Oktave reine Zusammenklänge ermöglichen sollten. Neben einem Werk von Luzzaschi (1545 – 1607), der zu Gesualdos Hochzeit gespielt hatte, hören wir Cembalomusik von Girolamo Frescobaldi (1583 – 1643), einem Schüler Luzzaschi’s, und von Michelangelo Rossi (1602 – 1656), der mit Frescobaldi studierte und dessen Toccata Settima berühmt ist für ihre Ketten chromatischer Terzen.

carlo gesualdo di venosa: madrigali (aus dem sechsten madrigalbuch)
carlo gesualdo / friedemann stolte: intervalli chiaroscuri – a gesualdo
(1. o beata mater / 2. ardens est cor meum / 3. legno battuto I / 4. il sol non nato estinse / 5. legno battuto II)
e.t.a. hoffmann: salve regina
carlo gesualdo / igor stravinsky: da pacem domine, illumina nos
cembalomusik von girolamo frescobaldi, michelangelo rossi und luzzasco luzzaschi